Für den Direktor der Europäischen Zentralbank (EZB) Yves Mersch ist die Zeit bald reif für eine Debatte über eine allmähliche Abkehr von der ultra-lockeren Geldpolitik. Das Wirtschaftswachstum im Euroraum habe sich beschleunigt und die politischen Unsicherheiten hätten seit Jahresbeginn abgenommen, sagte Mersch in Tokio.
Nach Chefvolkswirt Peter Praet lenkte mit Mersch nun schon ein zweites Mitglied aus dem sechsköpfigen EZB-Führungsteam den Blick auf mögliche Änderungen beim geldpolitischen Ausblick. Unterdessen werden nach dem Sieg von Emmanuel Macron bei der französischen Präsidentenwahl Rufe aus der deutschen Wirtschaft nach einer Kurswende EZB lauter. Mersch plädierte für ein vorsichtiges Vorgehen. „Jedwede Diskussion sollte natürlich in einer strukturierten, geordneten und angemessen umsichtigen Weise stattfinden.“

Mit der Wahl des Pro-Europäers Macron schwindet ein erheblicher Teil der politischen Unsicherheit. Außerdem rückt die EZB-Geldpolitik stärker in den Blick, weil die jüngsten Inflations- und Wirtschaftsdaten für die Euro-Zone zum Teil überraschend positiv ausgefallen waren.

Die Markterwartungen hinsichtlich Deflationsrisiken und weiterer Zinssenkungen hätten inzwischen nachgelassen, sagte Mersch. „Und der Fokus beginnt sich in Richtung einer Normalisierung der Geldpolitik in der Zukunft zu verändern.“ Der EZB-Rat sei zwar davon überzeugt, dass eine lockere Geldpolitik immer noch nötig sei. So hatte EZB-Präsident Mario Draghi erst unlängst darauf verwiesen, dass die Inflationsdynamik immer noch nicht kräftig genug ist. Aber Mersch zufolge kann die Zentralbank das Zusammenspiel der einzelnen Schritte in einer Situation sich weiter aufhellender wirtschaftlicher Perspektiven prüfen.

Aus Sicht des EZB-Direktors muss der geldpolitische Ausblick zu der sich ändernden Einschätzung der Wirtschaftsaussichten passen. So liege es in „realistischer Reichweite“, dass die EZB die Risiken für die Wirtschaft als ausbalanciert einstufen könne. Bisher überwiegen in ihrer Bewertung noch die Gefahren. Manche Experten halten es für möglich, dass die Währungshüter nun im Juni aus ihrem Ausblick Hinweise auf eine nötigenfalls noch expansivere Geldpolitik streichen.

Im April hatten die Euro-Wächter trotz einer optimistischeren Einschätzung der Konjunkturperspektiven noch an ihrer Politik der weit offenen Geldschleusen festgehalten. So beließ die EZB ihren Leitzins auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent. Auch die in Deutschland umstrittenen Käufe von Staatsanleihen und anderen Wertpapieren sollen wie geplant bis mindestens Ende 2017 fortgesetzt werden – und dann ein Volumen von 2,28 Billionen Euro erreichen.